- Eigentlich führe ich heute ein von Fernsehserien ziemlich unabhängiges Leben.
- Um es vorneweg zu sagen: Es geht hier nicht nur um Fernsehen.
- Über Anne Lister zu schreiben ist nicht so einfach.
- Über Gentleman Jack zu schreiben, ist zugegebenermaßen nicht viel leichter.
- Vielleicht mag das alles banal klingen.
Eigentlich führe ich heute ein von Fernsehserien ziemlich unabhängiges Leben.
Ich weiß aus meiner Jugend, dass sie durchaus eine lebensverändernde Wirkung haben können. Damals legte die Serie J.A.G. in mir den Grundstein für ein emotionales Exoskelett, das mir lange ausreichend Stabilität für schwierige Zeiten gab. Später habe ich mich mit The Big Bang Theory durch einige Jahre meines Single-Lebens gelacht und in der großartig portraitierten Intelligenz Orientierung gesucht. Das alles ist nun einige Jahre her. Heute lasse ich mich hin und wieder von der ein oder anderen Produktion begeistern, jedoch nimmt das meist einen überschaubaren Platz in meinem Alltag ein. Ku’damm 56 war so eine Serie. Auch Charité war nicht schlecht, außer das hier – darauf kommen wir nochmal zurück – ein schmerzhafter Klassiker ins Drehbuch geschrieben wurde: die unglücklich sterbende Nebenrollen-Lesbe.
Eigentlich fühle ich mich einigermaßen erwachsen und gesettelt und ertappe mich gerade dabei, wie ich in einer Faszination zergehe, ausgelöst von einer Serie. Einziger Trost: ich scheine damit nicht allein auf dieser Welt zu sein, eine ganze Community fühlt sich ähnlich. Ich will versuchen mich der Frage zu nähern, was das eigentlich ist, und ich befürchte schon jetzt, dass diesem Unterfangen mit Worten und Logik Grenzen gesetzt sind.
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Um es gleich vorneweg zu sagen: Es geht hier nicht nur um Fernsehen.
Es geht um eine mehr als beeindruckende historische Frauenfigur, die nach 200 Jahren eine Bühne erhält, um eine Message in buchstäblich die ganze Welt zu tragen: genau der besondere Mensch zu sein, der man ist, ungeachtet dessen, was die sozialen Konventionen diktieren. Es geht um Sichtbarkeit und Repräsentanz von Frauen, die Frauen lieben und schon immer geliebt haben. Es geht um Bezugspunkte für queere Identitäten und lesbische Liebe, mit all dem, was zu ihnen gehört.
Es geht um das Leben von Anne Lister, verfilmt in der Serie Gentleman Jack.
Anne Lister lebte von 1791 bis 1840 in Halifax in England. Sie war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die sich herausnahm, als Frau ein Leben als Grundbesitzerin, Unternehmerin, Reisende durch ganz Europa und – so sagt man heute – “erste moderne Lesbe” zu führen. Dieses Leben dokumentierte sie detailliert in einem 26-bändigen Tagebuch, es zählt vier bis fünf Millionen Wörter. Circa ein Sechstel ihres Werkes schrieb sie in einer selbst erfundenen Geheimschrift, in der sie ungehindert lästern konnte, persönliche Gefühle festhielt und alle Details – wirklich alle – ihres leidenschaftlichen Liebeslebens dokumentierte, welches sie ausschließlich mit Frauen führte.
Gentleman Jack wurde von Sally Wainwright kreiert. Sie hatte sich fast zwei Jahrzehnte mit Anne Listers Tagebüchern beschäftigt und schrieb schließlich ein großartiges, eng an ihnen angelehntes Drehbuch (nachdem sie in einer anderen Produktion übrigens auch mal einen lesbischen Charakter hatte sterben lassen). Gemeinsam mit Suranne Jones als Anne Lister und Sophie Rundle als Ann Walker haben sie etwas Einmaliges geschaffen – und wie Pat Esgate es formuliert: sie haben die Seele unserer Community berührt und ihre Arme um unsere Herzen gelegt, wie es noch nie zuvor geschehen ist.
Gentleman Jack ist eine BBC/HBO Co-Produktion, die in Großbritannien am Sonntagabend zur Primetime ausgestrahlt wurde. Bedenkt man den Plot der lesbischen Liebesbeziehung, ist allein das eine Sensation. Der durchschlagende Erfolg der ersten Staffel 2019 öffnete die Tür für eine zweite, die gerade ausgestrahlt wird. Inzwischen hat Gentleman Jack Menschen auf der ganzen Welt, viele aus der LGTBQI*-Community, fasziniert, inspiriert und ermutigt, sich und ihre Identität selbstbewusst anzunehmen, sich zu outen oder sich zumindest auf den Weg dorthin zu machen. Im letzten Jahr erschien ein Buch über den “Gentleman Jack Effect”, in dem Menschen erzählen, wie die Serie ihr Leben veränderte und es sich in eine Zeit vor und nach Gentleman Jack einteilen lässt. Eine TV-Doku folgte in 2022. Es dauerte nicht lange, bis einige von Anne Listers in den 1820er und 30er Jahren geschriebenen Sätze, die der LGBT*-Community aus der Seele sprechen, durch die heutigen Social-Media-Decke schossen und auf T-Shirts und Armbändern verkauft wurden.
I love & only love the fairer sex & thus beloved by them in turn, my heart revolts from any other love than theirs.
29. Januar 1821
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Über Anne Lister zu schreiben, ist nicht so einfach.
Denn man möchte gerne alles schreiben. Alles, was man sich im Kopfbehalten konnte, nachdem man alles über sie wissen wollte. Doch das würde den Rahmen sprengen, was wiederum symptomatisch für Anne Lister selbst ist. Denn es gab offenbar keinen Rahmen, in den diese Frau gepasst hätte.
Anne Lister beeindruckte mit einer außergewöhnlichen Intelligenz und einer Begabung, Menschen für sich einzunehmen. Sie liebte Bücher, Sprachen und Naturwissenschaften und sog alles verfügbare Wissen in sich auf, selbst wenn sie dafür als Frau einige Umwege gehen musste. Sie hatte einen erfrischend lebensbejahenden Geist – aber wohl auch eher schattige Seiten: ein wenig Egomanie, tiefer politischer Konservatismus und in bestimmten Phasen ihres Lebens kein Problem damit, die Nacht auch mal mit mehreren Frauen in unterschiedlichen Zimmern zu verbringen. Sie war sicherlich ein komplexer Charakter, der jedoch auch heute noch zu beeindrucken weiß – mit ihrer Energie, jeden Tag aufs Neue die Welt zu erobern, mit dem Selbstbewusstsein, mit dem sie ihr besonderes Leben gestaltete.

Anne Lister war ständig dabei, jegliche Verletzlichkeit zu überspielen. Und Ablehnung stieß ihr ausreichend entgegen. Sie wusste, dass sie anders war. Ihr Anderssein kannte noch keine Definition, und Anne Lister versuchte es durch naturwissenschaftliche Herangehensweise zu verstehen. Letztlich stand sie aber äußerst selbstbewusst zu sich. Sie lebte außerhalb der geltenden Gendernormen und übertrat ihr Leben lang die Grenzen dessen, was für Frauen an Aussehen, Auftreten und Rollenzuweisung vorgesehen war. Ihren drahtigen, sportlichen Körper steckte sie in verhältnismäßig maskuline Kleidung. Das, sowie ihre männliche Art, die Dinge anzugehen (oder überhaupt männliche Dinge anzugehen), brachten ihr den abfälligen Spitznamen Gentleman Jack ein. Doch sie lehnte es ab, vor der Herausforderung, mit ihrem Geist, ihrem Geschlecht und ihrem Körper in dieser Gesellschaft zu leben, zu kapitulieren.
Nature played a challenging trick on me. Didn’t she? Putting a bold spirit like mine in this… vessel. In which I’m obliged to wear frills and petticoats. But I refuse to be cowed by it.
Anne Lister in Gentleman Jack
Ihre Identität und ihre Sexualität, die jegliche Intimität mit Männern ausschloss, sah sie – eine damals sicher außergewöhnliche Haltung – als gottgeben an. Sie war sich ihrer “Besonderheit” sehr bewusst und tief davon überzeugt, dass Gott sie auf genau diese Weise geschaffen hatte und genau so annahm. Vielmehr wäre es für sie gegen die Natur gewesen, mit einem Mann zusammen zu sein. Sie lebte nicht geoutet – wenngleich die Menschen redeten – aber sie war sich selbst treu und fand Wege, ihre Sexualität unterhalb des gesellschaftlichen Radars auszuleben.
I urged in my own defence the strength of natural feeling & instinct, for so I might call it, as I had always had the same turn from infancy. That it had been known to me, as it were, by inclination. That I had never varied & no effort on my part had been able to counteract it. That the girls liked me & had always liked me.
13. November 1816
In einer unglaublich modern anmutenden Art trug sie in sich den Wunsch zu heiraten, zu lieben und geliebt zu werden und ihr Leben mit jemandem zu teilen. Nicht als geheimer Sidekick einer heterosexuellen Ehe, sondern in ehelicher Exklusivität und Verbindlichkeit – “nur” eben mit einer Frau. Auch wenn es zu dieser Zeit noch nicht viel Sprache gab, um Homosexualität als Identität und Lebensweise zu beschreiben, formulierte Lister dieses Ziel sehr klar – und verfolgte es.
Could not sleep last night. Dozing, hot, and disturbed… a violent longing for a female companion came over [me]. Never remember feeling it so painfully before.. it was absolute pain to me.
12. Juli 1823
Nach vielen sexuellen Abenteuern und nicht wenigen Frauen, die Anne Lister letztlich für eine Hetero-Ehe verließen, fand sie mit Ann Walker schließlich eine Frau, die den immensen Mut aufbrachte, diesen Weg mit ihr zu gehen. Und dabei lebte Ann Walker keineswegs mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie Anne Lister ihre Homosexualität aus. Sie war vielmehr dabei, sie mit Anne Lister überhaupt erst für sich zu entdecken und gegen die tiefe Homophobie ihrer Erziehung zuzulassen und zu verteidigen. Eine ebenfalls tief beeindruckende Entwicklung.
Die Anbahnung der Liebesgeschichte zwischen Anne und Ann im Jahr 1832 bis hin zur ihrer geheimen, inoffiziellen, aber trotzdem als solche gewertete Hochzeit im Jahr 1834 bilden den Rahmen für die erste Staffel von Gentleman Jack.

Anne Lister hat uns in ihren Tagebüchern ein äußerst detailliertes Bild ihres Lebens hinterlassen. Dass dieses in den letzten Jahrzehnten freigelegt, ihr Geheimcode entschlüsselt und schließlich auf eine unbeschreiblich wunderbare Art ins Fernsehen gebracht wurde, hat unzählige Menschen in der LGBTQ*-Community mit dem inspiriert, was Anne Lister mit ihrem ganzen Leben ausdrückte: Dass niemand das Recht hat uns zu sagen, dass wir in diesem oder jenem Aspekt unseres Seins nicht richtig sind.
Sie versorgt uns mit einer Gewissheit: Dass es lesbische Frauen und queere Identitäten schon lange, schon immer gegeben hat – mit aller Leidenschaft, allem Glück, aber auch allem Schmerz, allem gay pain, und der Sehnsucht nach einer Welt, in der das Leben mit der eigenen Identität leichter ist. Anne Lister hat nicht an sich gezweifelt, sondern von einer Welt geträumt, die es mit ihr aufnehmen könnte.
Dass diese Frau ihr Leben vor 200 Jahren so gelebt, in einer Welt, in der Vieles sicher noch viel schwieriger war als in der unseren, sollte uns den Mut geben, unsere Identität und unsere Sexualität ebenso selbstbewusst zu erkunden und liebevoll anzunehmen. Sie sollte uns ermutigen, uns nicht von Angst, sondern von der Liebe führen zu lassen – nicht zuletzt von der Liebe zu uns selbst als einer einzigartigen Schöpfung.
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Über Gentleman Jack, diese bahnbrechende Verfilmung, zu schreiben, ist zugegebenermaßen nicht viel leichter.
Denn auch hier gibt es unzählige Dinge zu benennen, die diese Serie so großartig und mitreißend machen. Allein die fesche, dynamische Musik bringt mir jedes Mal ein breites Grinsen ins Gesicht, wenn mir Beat und Melodie durch den Kopf gehen. Und nicht zu vergessen das mehr als geniale Durchbrechen der vierten Wand, wenn Anne Lister in die Kamera zwinkert und uns als Zuschauer direkt einlädt, sie auf ihrem Weg zu begleiten – oder das ein oder andere Geheimnis mit uns teilt.

Bei dem Versuch, meine Gedanken zu sortieren, komme ich schnell zu tiefen Emotionen, lasse mich ergreifen, möchte mich in so vielen Dingen verlieren.
Mich verlieren, im Streicheln der Seele, das spürbar wird, wenn diese wunderbare Liebesgeschichte zwischen Anne Lister und Ann Walker erzählt wird. Eine Geschichte, die vielschichtig und nicht unkompliziert ist, und im Film gegenüber dem wahren Leben sicher deutlich romantisiert ist. Aber es ist genau diese authentische Romantik, die Vielschichtigkeit dieser Beziehung, die Zärtlichkeit der Erzählung, in all ihren kleinen Details, die mir so zu Herzen geht. Zwar führt das Drehbuch durch viele Höhen und Tiefen, mit ausreichend Dramatik und tiefem gay pain. Doch am Ende steht nicht die Unmöglichkeit oder Sonderbarkeit dieser Beziehung, sondern ihr Zauber. Inmitten aller existierenden Unmöglichkeiten werden wir mitgenommen auf den Weg der beiden Frauen zueinander bis hin zu ihrer Hochzeit.
Oder vielleicht eher dem was, 1832 einer Hochzeit zwischen zwei Frauen so nah wie möglich kam: Ringtausch, gemeinsamer Empfang des Sakraments in der Kirche, gemeinsam Leben und Wohnen, gegenseitige Berücksichtigung im Testament. Im Geheimen, selbstverständlich, aber eingewoben in Annes und Anns Leben, bezeugt und festgehalten in Anne Listers Tagebuch. Nicht bekräftigt durch Formalitäten und Gesetze, aber von beiden in ihrem Herz so beabsichtigt und gemeint, aller gesellschaftlichen Restriktionen und Sanktionen zum Trotz.
Mich ergreifen lassen, von der Darstellung eines Butch Charakters, die für sich eine bestimmte Form weiblicher Maskulinität definiert hat und mit einer kraftvollen, berührenden Mischung aus Stärke und Verletzlichkeit, aus Selbstbeherrschung und Empfindsamkeit ausgestattet ist. Eine Identität, die – bei allen Fehltritten und Schattenseiten Anne Listers – so vollständig und ganz wirkt, so legitim und unbestreitbar, als sei sie einfach eine von unzähligen Identitäten, welche die Natur für uns bereithält. Sie findet tiefe Resonanz in mir. Gentleman Jack erweitert das Spektrum dessen, wie eine Frau sein kann.
Mich verlieren, in den zahllosen Details lesbischer Liebe und Intimität, die so wunderbar ehrlich, aber vor allem auch behutsam und zutiefst respektvoll dargestellt wird. Das Portrait eines Liebesakts zwischen Frauen, das nicht dazu dient, Männer zu befriedigen, sondern Frauen zu berühren und zu repräsentieren. Es spielt mit oft fast völlig bedeckten Körpern und subtilen Details, und kann in der Fülle vielleicht nur von Frauen verstanden werden, die wissen, wie es sich anfühlt, eine Frau zu berühren.
Zwar findet die Intimität zwischen Anne und Ann immer wieder hinter verschlossenen Türen oder zugezogenen Vorhängen statt und die Sanktionierung ihrer “Besonderheit” ist ein durchlaufendes Thema – für manche ein buchstäblich unaussprechbares. Doch die Darstellung der Intimität zwischen den beiden Frauen ist eine der großartigsten und berührendsten, die ich jemals gesehen habe. Sie erhält eine tiefe Legitimität und Normalität, etwas universell Gültiges – als sei diese Liebe ein Modell für das, was war und ist und sein darf und auf diese Weise perfekt, vollständig, rein ist. Und gleichwertig neben allen anderen Modellen heterosexueller Intimität, die uns sonst auf der Leinwand begegnen.
Mich verlieren, in den verwirrenden und überwältigenden Gefühlslagen, durch die wir die beiden Frauen auf dem Weg in ihre Beziehung und Ann Walker durch ihr inneres Coming Out begleiten. In so vielen davon finden sich sofort Bezugspunkte aus meinem eigenen Leben, das ich in unserer vermeintlich so freien und fortschrittlichen Welt führen darf. Sie machen die Erzählung einerseits authentisch, andererseits validieren sie all die Schritte, die ich selbst gehen musste, um herauszufinden, wer ich bin und wen ich liebe. Und es fasziniert mich, dass nicht jemand mit den Erfahrungen von heute eine Geschichte erfunden und in das 19. Jahrhundert transferiert hat, sondern die Erfahrungen aus genau dieser Zeit stammen und heute noch so nachempfindbar sind.
Da ist dieser Moment, als ich das erste Mal die Vermutung bekomme, dass ich mich vielleicht in eine Frau verliebt haben könnte. Wie die Welt auf einmal beginnt, auf dem Kopf zu stehen und ich befürchte, damit vielleicht auch noch ganz allein auf diesem Planeten zu sein – oder zumindest in meinem kleinen Universum. Zu entdecken, in einem einerseits unscheinbaren, andererseits so grundlegenden Aspekt anders zu sein, ohne direkt den Blick auf das Wundervolle daran richten zu können. Diese Verwirrung auszuhalten, sie zu entdecken, vorsichtig, aber neugierig. Bei aller Neugier aber auch eine Ahnung davon zu bekommen, dass diese Andersartigkeit vielleicht immer eine kleine, bleibende Lücke in mein Leben bringen wird, in der Zweifel, Angst oder Unsicherheit Platz haben, sollten sie anklopfen. Und schließlich den Mut zu haben, über all diese Zweifel und Ängste hinauszuwachsen, weil ich spüre, dass es dieser Weg ist, der mir eine tiefe Erfüllung schenken wird.
Der Ratschlag eines nahen Menschen, bestimmten Teilen meiner Familie meine Partnerin lieber als eine Freundin vorzustellen, die Wahrheit meines Glücks und meines Seins zu verschweigen, um eines vermeintlichen Friedens Willens.
Von einem Augenrollen ergriffen zu werden über die Absurdität, wenn jemand voll tiefer Empathie bei Gott für meine Heilung betet. Oder versucht mir zu erklären, wie der Teufel in meinem Leben am Werk sei, wenn sich meine Liebe auf Frauen richte. Ein Augenrollen zwar, aber dennoch eines, das Spuren in mir hinterlässt auf dem Weg hin zu der Überzeugung, genau so geschaffen worden zu sein.
Das zerstörende Gefühl, einem Menschen so nahe sein zu wollen und es vielleicht auch zu können, wenn dieser Mensch oder ich selbst doch nur das andere Geschlecht hätten. Der Seele eines Menschen so nah zu sein, aber dennoch vor einer Mauer zu stehen, die mir das Gefühl gibt, nicht in der richtigen Welt zu sein. Die Verzweiflung, in einem Aspekt falsch sein zu müssen, weil ich liebe, wie ich liebe.
Die Ambiguität zu spüren, wenn ich für einen Mann gehalten werde und manchmal weder mein Gegenüber noch ich genau wissen, wie wir damit umgehen sollen. Durch den Schmerz zu gehen, wenn die Verwechslung absichtlich geschieht und beleidigend wird, weil die Köpfe der Menschen zu eng sind für Vielfalt der Schöpfung.
Die Ohrfeige, wenn eine Frau, mit der ich mich in einer Liebesbeziehung wähne, mir beibringen will, “ordentlich” zu gehen oder sich mehr Feminität von mir wünscht – ohne den Hauch eines Verständnisses dafür zu haben, wie viel Kraft es kostet, den eigenen Standort zwischen feminin und maskulin immer wieder zu definieren, diese Subtraktion gesellschaftlicher Erwartungen von der eigenen Identität zu betreiben.
Und im Gegensatz dazu das wunderbare Glück, diesen Standort in Ruhe – und bei Bedarf auch immer wieder neu – an der Seite meiner Frau ausloten zu dürfen, ohne dass am Ende ein falsches Ergebnis stehen könnte. Gentleman Jack streift all diese Gefühlslagen und Erlebnisse, es schafft eine Verbindung über die Jahrhunderte hinweg und mit Menschen, die vielleicht alle ähnliche Erfahrungen in ihrem Leben gemacht haben
Am meisten verlieren könnte ich mich aber wohl in der Anziehung zwischen den beiden Frauen.
Diese Kraft und Leidenschaft und Tiefe einer solchen Verbindung, diese Sehnsucht, eins zu sein, mit der Seele einer anderen Frau zu verschmelzen, ist wie ein Feuer, dass ich in mir brennen spüre. Szenen, die mich ganz tief in meinem Innersten packen und fühlen lassen, hier tief in mir, liegt alles, was ich bin, eine unzerstörbare Kraft, Lebendigkeit und Liebe – und in aller Klarheit etwas, dass sich für mich mit keinem Mann teilen lässt. Gentleman Jack vermittelt mir eine Ahnung davon, dass dies nicht nur eine Eigenartigkeit meines Geistes ist, sondern, dass es das wirklich gibt, ein veritabler Zustand meines Seins – und der vieler anderer Frauen über Jahrhunderte hinweg.

Und schließlich ist da das unbeschreibliche Glück darüber, dass all die Sehnsucht, Leidenschaft und Liebe in meinem Leben nicht ins Leere laufen, sondern hier und jetzt ihr Gegenüber und Ziel gefunden haben. Dass diese tiefe Verbindung lebendig ist in der Liebe zu der Frau meines Lebens.
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Vielleicht mag das alles banal klingen.
Aber es hat für mich – und ich weiß, dass ich da nicht allein bin – eine tiefe Bedeutung, eine solche Geschichte im Fernsehen zu sehen. Es ist für mich normal, in den Liebesgeschichten, die in den Medien laufen, nur ein wenig oder auch keinen Bezug zu finden, es fällt mir schon gar nicht mehr auf (was nicht bedeutet, dass sie nicht sehenswert sind oder nicht berühren können). Und dann gibt es da plötzlich ein Pride and Prejudice für Lesben und ich kann endlich verstehen, warum all meine Schulfreundinnen die Jane Austen Verfilmung so sehr liebten. Weil sie etwas sehen, worin sie sich wiederfinden, weil sie einen Abend lang eine bunte Palette von Gefühlen durchleben können, mit ihren Wünschen und Sehnsüchten in Kontakt kommen oder sie vielleicht zu entdecken beginnen. Auch wenn diese nicht immer erfüllt sind oder werden, ist das es eine zutiefst lebendige Erfahrung. Für mich war und ist diese Erfahrung immer dort limitiert, wo sich weibliche und männlicher HauptprotagonistIn küssen – wohingegen es mich in grenzenlose Emotionen schmeißt, wenn es zwei Frauen sind, die ihr Happy End finden. Weil sie das, was ich fühle, validieren, weil sie mir versichern, dass es das wirklich gibt.
Deshalb ist diese Serie in meinen Augen so wichtig und wertvoll. Ich bin unendlich dankbar, mich mit fast Ende 30 von Gentleman Jack, Anne Lister und Ann Walker mitreißen und tief berühren lassen zu dürfen, und erstaunt, wie viel Sehnsucht danach Bestätigung und Identifikation da eigentlich immer noch ist. Und Gentleman Jack schafft dabei etwas fast Unbeschreibliches. Lesbische Liebe wird nicht nur als real und existent dargestellt, sondern sie erhält eine tiefe Legitimität. Sie ist vollständig, würdig und recht.
Ein wenig bemitleide ich mein 18-jährige Ich, das innerlich völlig ergriffen und elektrisiert war, als es das allererste Mal einen Kuss zwischen zwei Frauen im Fernsehen gesehen hat. Zum ersten Mal einen Kuss sehen und in aller Deutlichkeit spüren: Das will ich auch. Doch meine Anne Lister hieß damals leider Walter und lebte im RTL-Frauenknast. Nicht gerade ein Juwel der TV-Geschichte, aber die einzige Chance auf so etwas wie eine lesbische Storyline.
Wie viel lieber hätte ich mich von den beiden Ann(e)s Fernseh-Frauen-Kuss-entjungfern lassen! Es wäre gigantisch gewesen. Vielleicht hätte es mir geholfen, einige Jahre früher die Kontur meiner Identität zu erkennen. Vielleicht wäre ein bisschen mehr innere Stärke gewachsen und ein bisschen weniger Exoskelett nötig gewesen. Doch jede Runde, die ich gedreht habe, um jetzt hier zu sitzen und über Anne Lister und Gentleman Jack zu schreiben, hatte ihren Sinn. Und was ich meinem 18-jährigen Ich heute erzählen kann, ist zudem beruhigend: Gentleman Jack wird das LGBTQ*-Universum erweitern, und während ich mich von all den Emotionen dieser Frauen ergreifen lasse, bei der Hochzeitsszene Tränen vergieße, wird meine Frau neben mir sitzen und mir liebevoll die Hand halten.
- Gentleman Jack ist verfügbar auf DVD, Amazon (auch ohne Prime!), Sky und Youtube Premium, Staffel 1 auf detusch und englisch, Staffel 2 auf englisch (deutsch ca. Anfang 2023)
- Gentleman Jack ist von Helena Whitbreads und Jill Liddingtons Büchern inspiert, die umfangreiche Transkriptionen von Anne Listers Tagebüchern enthalten. Eine Übersicht aller Bücher findet sich auf der Seite des Anne Lister Birthday Weekends. Sehr guter Einstieg zur Serie ist das Begleitbuch von Anne Choma.